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Die Geschichte beginnt vor genau zwei Monaten, am 11. Dezember 1996. Ich habe ein Flugticket für eine sechswöchige Indienreise in der Tasche, als mein Telefon spät abends schellt. Manuel (Göttsching), Freund, Gitarrist, head of ASHRA, ist an der Strippe und meldet sich mit: "Ich bin im Wachsmuseum von Tokyo!" - "Was, du bist nicht in Berlin?" frage ich überrascht. "Doch, aber ich bin auch im Wachsmuseum von Tokio", erwidert er, mit meiner Ahnungslosigkeit und Verblüffung spielend. Jetzt dämmert es mir. An zwei Orten zugleich kann er nicht sein. Mir schwant, der Bursche redet von seinem wächsernen Konterfei im Tokioter Wachsmuseum. Nicht in irgend einem Wachsmuseum, in dem Tokioter Wachsmuseum überhaupt.
"Hast Du Lust in Japan aufzutreten?" ist der nächste Satz den ich höre. "Whow! Japan?! Mit ASHRA!? "Klar Mann!", antworte ich ohne Zögern, "Wann geht’s los? Hoffentlich nicht innerhalb der nächsten sechs Wochen, ich fliege in zwei Tagen nach Bombay!" Er erwidert: "Anfang Februar für eine Woche. Vier Gigs. Zwei Festival- und zwei Clubgigs, Tokio und Osaka". "Paßt genau!", antworte ich begeistert. Meine Bedenken: Wir können nicht, wie früher, alles mit dem alten Arp Sequencer und dem stimminstabilen Minimoog machen. Damals hat Manuel auf der Bühne nach jedem Stück eine neue Bass-Sequenz tunen müssen, was manchmal blödsinnige Pausen bis zu fünf Minuten zwischen den Titeln verursachte. Außerdem war er damals schon mit der Aufgabe überlastet, Gitarre, Sequencer und Keyboards gleichzeitig zu spielen. Ich befürchte auch, daß der Gute, mit der Organisation der Japangigs dermaßen viel um die Ohren haben wird, daß er die Vorbereitung an den Musikmaschinen in der kurzen Zeit kaum würde schaffen können. Frühere Gigs, bei denen wir mit Backing tapes arbeiteten, fand ich nicht gerade überragend, weil ich Tapes für ziemlich unflexibel halte, jedes Stück anders klingen kann, manchmal die tiefen Bassfrequenzen aus dem Ruder laufen und dazu beitragen das die Sets dann nicht wie aus einem Guß rüberkommen. Ich schlage Manuel vor, Steve Baltes mitzunehmen, meinen jungen Musikpartner, Keyboarder, DJ und Produzenten. Mit Steve produziere ich N-TRIBE und HOLO SYNDROME, zwei Elektronikprojekte im Stile von Progressive House, Tribal und Trance/Ambient. Steve ist sehr musikalisch, hat große Talente und die Technik voll im Griff. Seit ich vor drei Jahren Oliver Lieb bei EYE Q in Frankfurt beim Remixen und produzieren über die Schulter geschaut habe, empfinde ich großen Respekt für die musikalisch technischen Fähigkeiten der jungen Szene. Beim 94’iger Jazzfestival in Montreux habe ich für Olivers AMBUSH Projekt, mit noch drei weiteren Drummer das Ddrum gehauen. Als ich zwei Tage nach Manuels Anruf nach Indien abreise, ist ungewiß ob Steve mitreisen wird. Lutz (Ulbrich), den wir alle Lüül nennen, Gitarrist und Keyboarder ASHRA’s muß gefragt, Kostenfragen müssen geklärt werden.
In Hampi gibt es kein Fax. Erst wieder im Central Telegraph Building von Mysore, einem Gebäude im englischen Kolonialstil, unter den hier Allerorts üblichen, extrem nervenden, umständlich bürokratischen Methoden der indischen Verwaltung. In der malerischen Stadt Mysore werde ich mich etwa vier Tage aufhalten. Die Faxerei funktioniert tadellos. Passbilder von mir treibt Manuel in Deutschland auf. Als ich am 25. Januar wieder im Lande bin, ist Steve schon voll mit den musikalisch-technischen Vorbereitungen beschäftigt. Sampeln, Hardwaresequencer programmieren etc. Er freut sich riesig, daß wir ihn mit nach Japan nehmen. Wir wollen so wenig wie möglich mitschleppen. Dennoch bringen allein wir beide fast einhundert Kilo Gepäck auf die Waage des JAL Check-In Counters am Frankfurter Rheinmain Airport. In den zehn Tagen bis zum Abflug bekomme ich die Timetabels, die bis ins Detail festlegen, wann was mit wem passiert, von Manuel zugefaxt. Die Flugtickets kommen drei Tage vor Abflug. Ich kann die Visa von Steve und mir erst einen Tag vor Abflug vom Japanischen Konsulat in Düsseldorf abholen. Es bleibt spannend bis zur Abreise. Von Mönchengladbach über Köln nach Frankfurt geht’s mit der Bundesbahn. 95 Kg rein in den Zug, in Köln wieder raus aus dem Zug. Auf den Trolly, runter vom Trolly. Treppen runter - schleppen, Treppen rauf - schleppen. Rein in den Zug, in Frankfurt wieder raus aus dem Zug. Auf den Airporttrolly. Runter vom Airporttrolly. Rein in die Schwebebahn. Trolly, Fahrstuhl. Raus aus dem Fahrstuhl. Mit dem Trolly die Rolltreppe rauf. Shit..! Falsche Etage! Wieder die Rolltreppe runter. Da, endlich, am Horizont des riesigen Glasgebäudes, der Japan Airline Counter. Von Weitem erkenne ich Manuel, Lüül und Sydow, unseren Tontechniker. Die drei sind mit der Bahn aus Berlin angereist und auch gerade erst eingetroffen. Wir freuen uns mächtig, uns wiederzusehen und sind gespannt, welches Abenteuer da auf uns zukommen wird.
Linksverkehr. Speedlimit wie in Holland. Alles kommt mir vor, als würde es in Zeitlupe ablaufen. Geschäftigkeit, aber keine Hektik. Keiner pusht den anderen hier wie bei uns in Deutschland. Es ist auch hier Winter. Schneefreie Landschaft. Grau und blaugrün. Die Skyline von Tokio in der Abenddämmerung ist ein Hammer. Wolkenkratzer mit diesen riesigen, leuchtenden asiatischen Hieroglyphen. Eigenartige, gigantische Architektur. Sechzehn Millionen wohnen und arbeiten hier wie die Bienen. Keine einzige Kippe liegt auf der Straße. Dreistöckige Autobahnen in dreißig Metern Höhe ziehen durch das Häusermeer. Nach fast zwei Stunden erreichen wir den Stadtteil Roppongi. Hier steppt der Bär. Vergnügungs- und Szenemeile. In Roppongi befinden sich die Bars und die angesagten Techno-läden. Mittendrin unser Hotel. Die Seitenstraßen sind klein und eng. Überall leuchtet es grellbunt, blinkt und blitzt mich an. Die Menschen sind freundlich und gut gekleidet. Ich sehe sehr schöne, exotische Frauen. Im Foyer werden wir vom Sektions Chef des Tower Wax Museum, Mr. Takashi Fukushi und seinem Assistenten Mr. Keiji Oikawa, selbstredend in Anzüge gekleidet, empfangen. Der übliche Austausch von Visitenkarten. Mr. Takashi möchte von uns mit Taka-san angesprochen werden. Die beiden überreichen uns ein Geschenk in Form eines kleinen Paketes mit japanischen Ansichtskarten. Die Freundlichkeit der beiden Herren wird von fast unterwürfig schnellen Verbeugungen begleitet, die mir hier noch oft begegnen werden. Ein für mich ungewohntes Verhalten. Mein Zimmer ist relativ klein, läßt aber nichts vermissen. Ich schalte das TV ein und ziehe mir ein paar CNN-Nachrichten rein. Ein Display am Gerät signalisiert mir daß eine Message für mich vorliegt. Auf dem Tisch liegt ein kleines Couvert. Darin eine Visitenkarte von Mr. Gen Fu-jita, Präsident der International Leisure Corporation, die unter anderem das Tokyo Tower Wax Museum verwaltet. Das Wax Museum hat die Sicherheitsgarantien für unsere Tour hier übernommen. Jetzt entdecke ich auf dem Tisch eine Welcome -Flasche des erlesenen französischen "Veuve Cliquot Ponsardin" Champagners. Teures Getränk, geiler Empfang denke ich mir. Das Bad ist eine ultracleane, hellbeige Kuststoffzelle, die im Prinzip nur aus zwei Teilen besteht. Alles was ein Bad braucht aus einem Guß. Die Sitzbadewanne ist tief genug um mich vollständig mit Wasser zu bedecken. Ich bin immerhin 1,90 m groß. Das Bad wird täglich neu bestückt mit: Einer Zahnbürste, Zahnpasta, Handrasierer, Shampoo, Haarspülmittel, Seife, Wattestäbchen, Cremes und Eau de Toilettes. Jeden Tag ein frisch gebügelter, dünner japanischer Morgenmantel und frische Bettwäsche. Gläser werden in Plastiktüten verpackt. Der Toilettendeckel wird mit einer Papierbanderole welche die Aufschrift "sanitarised" trägt, versehen. Welch eine Verschwendung, denke ich. Diesen Eindruck habe ich öfter in dieser Woche. Was geschieht mit dem ganzen Plastikzeugs? Alles ist doppelt und dreifach in Plastik verpackt, eingewickelt, dekoriert. Das Leitungswasser schmeckt stark nach Chlor. Wenn ich dusche oder bade habe ich jedesmal so ein Schwimmbadfeeling. Unser Timeschedule ist stramm und bestens durchorganisiert. Im Foyer des Hotels treffen wir die gesamte SYSTEM 7 Crew. SYSTEM 7 ist der Act von Steve Hillage, mit denen wir am folgenden Abend im "LIQUID ROOM" Club auftreten werden. Um neunzehn Uhr ist ein technical Meeting angesetzt. Mit ASHRA, SYSTEM 7, Colin und Nambu Hirukasu, dem Chef von Smash-West/Tokyo, mit Sa-Sha von der Roadcrew, sowie mit John, David und Jonathan, der SYSTEM 7-Crew. Steve Hillage hat früher mit seiner Lebenspartnerin Miquette Giraudy, einer quirligen Französin, welche die Keyboards bei SYSTEM 7 bedient, bei GONG, dem englisch-französischen Kultact der Siebziger Jahre gespielt und nach Solokarriere, unter anderem, bei THE ORB mitgewirkt. Steve und Miquette sind anwesend, als wir im "Café Paris" einlaufen, in dem das Meeting stattfinden soll. Steve und Miquette kennen Manuel aus der gemeinsamen Zeit bei Virgin Records. Steve hat Manuel einige Male in Berlin besucht, und Manuel hat die beiden in London besucht. Long time no see. Die Atmosphäre ist heiter, gelassen und auf die vor uns liegende Arbeit konzentriert. Ständig piepsen Handys, die in Japan noch kleiner und gebräuchlicher sind als bei uns. Wir alle freuen uns, in Japan zu sein und hier arbeiten zu können. Perfekteste Organisation. Technische Kleinigkeiten werden geklärt, alles wird schriftlich festgehalten, ausgedruckt. Am nächsten Tag drückt Kalle Becker dann jedem von uns ein Exemplar der Resultate des Vorabends, ein mehreren Seiten umfassendes Dokument in die Hände.
Mein Rücken schmerzt von der langen Sitzerei im Flugzeug, und ich entschließe mich den seriösen Shiatsu-Massageservice in Anspruch zu nehmen, den jedes Hotel in Japan anbietet. Um 13:00 Uhr klopft es an mein Zimmer. Pünktlich, wie verabredet. Eine kleine, resolute alte Dame betritt mein Zimmer und redet auf japanisch auf mich ein, scheinbar ohne Antworten von mir zu erwarten. Wie auch. Ich soll den Morgenmantel anziehen, signalisiert sie. Auf nackter Haut wird hier nicht massiert. Wir sind in Japan. Hier geht es anständig zu. "Japanstyle" sagt sie in gebrochenem Englisch. Die Dame ist sehr forsch und bearbeitet mich eine ganze Stunde lang äußerst effektiv mit ihren starken, geschickten Daumen. Manchmal sehr schmerzhaft. Ich fühle mich wie neugeboren, berappe 5000 ¥, etwa 70,- DM. Ach ja, bei allem Erstaunen und Erleben fällt mir ein, daß ich ja vor allem hier bin, um zu arbeiten. Um 15:00 werden wir von Colin zum Stage Set-Up abgeholt. Der "LIQUID ROOM" ist der Techno-Underground-Club in Tokyo. Hier hat schon alles aufgelegt, was in der Welt der Raves einen Namen hat. Im mit interessantesten Graffiti übersäten Dressing Room finden wir ein Catering erster Güte vor. Obst, Sandwiches, Getränke ohne Ende. "Real Dinner will be served later!" hören wir. Das Line-Up dieses Abends: KEN ISHI, japanischer DJ legt auf. SYSTEM 7 und ASHRA spielen live. HANADENSHA, eine junge japanische psychedelic-Rockband tritt auf. Von METALIC T.O. bekomme ich weder während ihres Soundcheck, noch von ihrer Performance etwas mit. Unser Gig soll von 23:30 Uhr bis 00:30 Uhr gehen. Wir haben noch viel Zeit. Manuel will zurück ins Hotel, relaxen. Zuerst wollen wir aber etwas essen. Nach zehn Minuten kommen zwei riesige Plastikplatten mit Sushi und für jeden eine große Suppenschale, angefüllt mit einer schmackhaften Nudelsuppe. Wieder alles gnadenlos in Transparentfolien verpackt und wundervoll dekoriert. Wir fangen schon mal zu essen an. Nach ein paar Minuten kommt Lüül in den Raum gestürzt und schreit, daß etwas mit Manuel passiert ist. Ich renne aus dem Raum und sehe am Ende des Ganges, wie sich Colin und Lüül über den am Boden liegenden Manuel gebeugt haben. Als ich näher komme, erkenne ich, daß er sich im Gesicht verletzt hat. Die Nase ist verletzt, über dem Auge ist eine Platzwunde, sein Gesicht voller Blut. Er hat die Augen offen und reagiert nicht auf meine Ansprache. Wir tragen ihn in den Fahrstuhl, die Ambulanz wartet schon, ein Hospital ist direkt um die Ecke. Lüül und Colin begleiten Manuel.
24:00 Uhr, Steve (Baltes) geht als erster auf den Set und wird stürmisch begrüßt. Er fängt mit Teppich-Sounds und leisen Gitarrensequence-Samples an. Nach fünf Minuten geht Lüül los und wird ebenfalls stürmisch begrüßt. Dann gehe ich und bearbeite soft meine Hi-Hats. Der Begrüßungsbeifall geht mir wie Strom durch den Körper. Nach mir geht Manuel, der sich mit seinen weißen Pflastern im Gesicht immer noch etwas geniert. Die 1250 Leute, die den "LIQUID ROOM" prall gefüllt haben, reagieren frenetisch. Der Strom treibt uns zur Bestleistung an. Als die Roland 808 mit der 4/4 Bassdrum-Line loslegt, ist die Stimmung auf dem Höhepunkt. Ich bin froh, daß doch noch alles so gut läuft und sehe dem befreiten Lächeln von Lüül und Steve an, daß es ihnen wie mir geht.
Um 02:00 Uhr liege ich im Bett. Ausschlafen! Geht aber nicht. Um 10:30 haben wir uns zum Frühstück, wieder im "Pronto", verabredet. Die Hotels in Japan bieten nicht automatisch und inklusive Frühstück an. Sydow und Steve haben sich nach der Show noch bis in die Morgenstunden in Roppongi rumgetrieben. Manuel ist seit acht Uhr auf den Beinen, hat Sightseeing in der Umgebung gemacht und schon gefrühstückt. Ich bin halbwegs ausgepennt.
Man führt uns in einen großen Raum. Eine sich freundlich verbeugende Schönheit nimmt uns die Garderobe ab. Mr. Fujita begrüßt uns. Wir werden an die für uns vorgesehen Plätze, an einem großen, in der Mitte des Raumes stehenden Tisches geführt und werden mit Kaffee und andern Getränken bewirtet. Taka-san, Chef des Towers, hatte bei seinem letzten Deutschlandaufenthalt die Aufgabe, extra für uns, deutsche Snacks, Gebäck und Underberg (?) aufzutreiben. Die Journalisten werden hereingebeten. Vertreter der vier größten Musikjournale Japans sind auch anwesend. SOUND RECORDING, MARQUEE, THE DIG, und ELEKING. Die englischsprachige JAPAN TIMES schreibt am folgenden Tag ein sehr gutes Review über den Gig. Alle anwesenden Journalisten haben unser gestriges Konzert gesehen und sind voll des Lobes. Die Kameras klicken. Colin übersetzt Fragen ins Englische. Streng, die Regeln japanischer Hierarchien beachtend, wird zunächst Mr. ASH RA TEMPEL, Manuel Göttsching-San befragt. Das San, nach den Namen oder dem Vornamen ausgesprochen, hat zwei unterschiedliche Bedeutungen. Ich bin ab jetzt Harald-San, für nahe Freunde. Für den Fremden und Bekannten heiße ich freundlich, respektvoll distanziert, Großkopf-San. So werde ich von Mr. Fujita und seinen Mannen bei all unseren Begegnungen in den nächsten Tage genannt.
Alle sind vorhanden: Von Ritchie Blackmore, Jimmy Page, Peter Gabriel, über Jimi Hendrix, Elvis, Mahatma Ghandi, Marilyn Monroe, bis Einstein und Jesus. Alles hemmungslos dicht beieinander. Taka-san und ein weiterer Japaner begleiten uns auf die Aussichtsplattformen der obersten Stockwerke des Towers. Welch ein Ausblick! Tokio bis zum Horizont, in alle Richtungen. Es dämmert bereits, die Neonbeleuchtungen mit den japanischen Riesenlettern und blitzlichtähnlichen Blinkereien sind schon eingeschaltet. Auf der Ebene der "Cosmic Joker" Boutique ist eine von diesen japanischen Spielhöllen. Computer steuern in Echtzeit die Mechanik der Spiele. Du sitzt vor einem Riesenbildschirm und steuerst irgendeine Flugmaschine oder bekämpfst gnadenlos sehr sportlich weghüpfende Terroristen. Der große Rentner sind Fotoautomaten, an denen man sein Konterfei auf diverse frei wählbare Rahmen und Backgrounds setzen lassen kann und dann als sechzehnfachen Ausdruck in Briefmarkengröße, zum Heraustrennen und Aufkleben, ausgedruckt bekommt. Die Leute stehen Schlange vor diesen Apparaten. Ich bekomme ein Exemplar geschenkt. Kalle-San, unser Tourmanager und ich entschließen uns, zurück zum Hotel zu Fuß zu gehen. Zwanzig Minuten Weg. Die Luft in Tokio ist klar und frisch, wegen der Meeresnähe. Zwei Tage später erhält jeder von uns Vieren als Erinnerungsgeschenk von Mr. Fujita ein Paket mit einem individuellen Fotoalbum: ASHRA im Tokyo Tower. Im Hotel nehme ich schnell ein heißes Bad, habe gerade noch Zeit mich umzuziehen und begebe mich ins Foyer. Um 20:00 Uhr ist Termin. Wir werden wieder von Colin abgeholt. Mr. Fujita hat uns und die SMASH-Crew zum Essen eingeladen. Pünktlichkeit ist ein Muß in Japan, sonst beleidigt man den Gastgeber, der das aber nie direkt zum Ausdruck bringen würde. Wir schaffen es nicht ganz. Sorry Mr. Fujita!
Wir beschließen, in einen Club zu gehen. Der heißt GAS PANIC und liegt auch nicht weit entfernt vom Hotel. Die Straßen wieder voller Leute, die Geschäfte zum Teil noch offen. Wieder die obligatorische Anmache der Huren. Schwarze Nordamerikaner drücken uns im Vorbeigehen Flyer mit Pornoprogrammen der Sexclubs in die Hände. Fahrstuhl, siebter Stock. Ein muskelbepackter Bodyguard mustert uns skeptisch und läßt uns passieren. Im GAS PANIC geht es ab. Hip-Hop, Grunge, Techno. Laut! Sehr laut! Viele Weiße halten sich im Club auf. Auf der Theke tanzen einige Frauen. Die Stimmung ist super, alles scheint sich zu freuen. Nach zwei Stunden gehe ich mit Steve zurück ins Hotel. Kalle-San, der länger geblieben ist, berichtet uns am nächsten Tag von einer heftigen Schlägerei zwischen Mexikanern und Japanern. Der Muskelmann hat auch gut zugelangt. Morgen geht es nach Osaka. 09. Februar. Ich schlafe nur zwei Stunden lang, dann ist es aus. Der Jetlag schlägt zu. Es ist 03:30 Uhr. Ich lege mich in die heiße Badewanne und beschließe, nach dem Bad Postkarten zu schreiben. Die sind schon nach zwei Tagen alle in der Heimat. In Indien haben die Dinger drei bis vier Wochen gebraucht. CNN berichtet vom Tamagutch’ Fieber, das in Japan ausgebrochen ist. Tamagutch’ ist ein buntes, kleines piepsendes Plastikei mit einem LCD-Display und zeigt ein kleines Hühnchen, das auf Knopfdruck irgendwelche Aktionen macht. Wenn man Fehler macht, verreckt es. Das Ding kostet sechzehn Dollar und ist seit Wochen wegen starker Nachfrage nicht mehr zu bekommen. Fanatiker zahlen bis zu einhundert Dollar für ein Exemplar.
Strahlender Sonnenschein weckt mich. Der 10. Februar. Es ist mild draußen. Nach dem Frühstück, in einem der zahlreichen Cafés, laufen Steve und ich einige Stunden zu Fuß durch die Stadt. Alles ist quadratisch angeordnet. Wir finden uns leicht zurecht, gehen in eine dieser Spielhöllen, die manchmal Atariata genannt werden und verprassen ein paar hundert Yen an einem Baller- und Karatespiel in Echtzeit. Die Auflösung der Bildqualität ist enorm. Dann besuchen wir einen Musikladen und checken den neuen JP-8000 von Roland. Gibt’s hier schon und ist ‘ne Ecke günstiger als bei uns zu haben. Unterwegs treffen wir Lüül, er hat bis heut morgen durchgeratzt und unser Telefongeklingel nicht mitbekommen. Was soll’s, er ist wieder da, wunderbar. SYSTEM 7 war tagsüber in Kyoto und hat sich die Stadt angesehen. Wir hätten um 07:00 Uhr aufstehen müssen um den Trip mitzumachen. Next time! Zu anstrengend heute. Wir haben noch drei Gigs vor uns. Steve (Hillage) und Miquette sehen wir beim Soundcheck im "BAYSIDE JENNY" Club wieder. Große Wiedersehensfreude. Miquette hatte gestern Geburtstag. Wir schenken ihr gemeinsam eine "Tarot" Swatch Uhr, die Walter Wegmüller entworfen hat, ein Schweizer Maler, mit dem wir vor fünfundzwanzig Jahren ein Doppel-LP, mit dem Titel "TAROT", produziert haben. Soundcheck, die Anlage ist riesig, hat aber lange nicht die Qualität von der im "LIQUID ROOM". SYSTEM 7 hat Probleme mit dem Monitoring. Irgend etwas ist im Eimer und wird gerade von John und David repariert. Wir sitzen blöd rum und warten darauf, unseren Soundcheck machen zu können. Als wir dann endlich dran sind, raucht uns’ Steve’s Monitor ab. Er bekommt einen kleineren, auf dem aber die 808-Bassdrum nicht so fett rüberkommt. Er befürchtet, daß er sie, weil controlingmäßig nicht richtig zu hören, während des Sets zu laut aufreißen könnte. Im Dressingroom backstage, wieder geilstes Catering. Hier in Osaka hat die Liebe zum Underground erst vor kurzer Zeit angefangen, hören wir. Tokyo sei da wesentlich weiter. Die Leute bezahlen für unsere Shows im Schnitt 5500 ¥, das sind mehr als 75,- DM. Normal hier. Wir spielen pünktlich um 00:00 Uhr, für etwa eine Stunde. Der Laden ist gut gefüllt. Wir fahren auch hier musikalisch wieder sehr gut ab, geben an einigen Stellen enorm Gas und müssen Zugaben spielen. Alles hat, trotz Soundbeschränkung on Stage, sehr gut geklappt. Die Show war hochgradig professionell. Tokio und das ganze Drumherum hat uns sehr viel Energie gegeben. Der technical Support von Sa-Sha und seiner Crew ist perfekt und immer relaxed freundlich. Steve (Hillage) und Miquette wollen sich für uns in England stark machen, wir sollen unbedingt dort spielen. Fotosession nach dem Set. Wir werden von einem Amerikaner, der hier lebt und japanisch spricht, für ein englischsprachiges Blatt interviewt. Er fand unsere Show sehr gut und wird positiv schreiben. Ich will mir SYSTEM 7 anhören. In Tokyo war ich zu erschöpft, um bis 03:00 Uhr durchzuhalten. Hier in Osaka spielen Sie auch erst gegen 02:30 Uhr nachts. Ihre Show ist geil und zeitgemäß. Unser Youngster Steve (Baltes) hat echt Spaß an den beiden. Der letzte Tag für SYSTEM 7 in Japan. Die ganze Crew muß morgen, das heißt in vier Stunden, am Airport in Osaka sein. Wir verabschieden uns von ihnen, mit der Hoffnung, uns bald wieder zu treffen. "Maybe London!". Tschüs, war ein gutes Ding, Euch alle kennenzulernen. Dank an David und John für den support am Monitormixer und danke auch für das geile Licht, Jonathan. 11. Februar. Heute ist japanischer Nationalfeiertag. Man merkt nichts davon. Die Läden sind alle offen. Der Konsumrausch geht ungebrochen weiter. Wir fahren in den siebenten Stock eines Hochhauses in dem SONY, in einigen Showrooms, elektronische Neuheiten präsentiert. Wir sind beeindruckt von dem Entwicklungsstand hier. Japan, Science-fiction Land. Das Zeug was hier auf dem Markt ist, kommt erst in den nächsten Jahren zu uns rüber. Die Japaner nutzen die moderne Technik in aller Unschuld und vollkommen ohne Vorbehalte. Nach ihrem buddhistischen Verständnis ist alles, auch Anorganisches, mit Leben beseelt. Somit sind die Dinge an sich nicht schlecht, sofern sie nicht mißbraucht werden. Aber selbst dann sind die Erfahrungen, die aus den schmerzlichen Folgen eines Mißbrauchs herrühren, für das Leben des Einzelnen und der Masse positiv zu werten, weil sie die Evolution vorantreiben.
Am 11. Februar um 09:30 Uhr holt uns Nambu bei strahlendem Sonnenschein vom Hotel ab. Der SHINKANSEN, zurück nach Tokio wartet auf uns. Taka-san hat mir seine Videokamera geliehen. Ich filme alles, was ich sehe. Taxieinstieg der Band. Taxifahrt. Shin-Osaka, Bahnhof von innen, den ASHRA-Gänsemarsch hinter Nambu her, die Einfahrt des SHIN-KANSEN in den Bahnhof, den Einstieg unserer Truppe, die Fahrt, endlose Städte, verschneite Landschaft, den Fujijama. Die Sonne scheint nach heftigem Regen- und Schneeschauer wieder. Klare Luft empfängt uns am Shin-Tokyo.
Kings Records erwartet Gabriel Ibos und uns zu einem Essen nach der Show. Wir müssen für morgen erst alles reisefertig einpacken, bevor wir die Einladung wahrnehmen können. Die Fans lassen uns auf der Straße nicht vorbei, ohne daß wir einen Stapel LP’s und CD’s signiert haben. Das Essen ist wieder einsame Spitze. Toby, der sich Tobynation nennt, ein junger japanischer DJ, der Deutschland, Oliver Lieb und die Leute von EYE Q RECORDS aus Frankfurt kennt, sitzt mit uns am Tisch. "Kampai, Kampai". Dann gehen wir noch in einen Club. Der ist aber nicht so berauschend. In einer Kneipe nebenan gibt’s noch ein paar Bier und nette Konversation über französischen Existenzialismus, No, Kabuki und Butoh-Tanz mit einer auffallend attraktiven Schönheit. Sie spricht ein gutes Englisch, ist eine Poetin, die Gabriel seit Tagen begleitet und mir schon auf dem ersten Tokyo Gig im "LIQUID ROOM" aufgefallen war. Sie heißt Setsuko Chiba und hat auf Gabriels französischem Label eine Platte mit Text und Musik herausgebracht. Im "ON AIR WEST" Club heute abend hat sie uns angesagt. Lüül, Gabriel, Setsuko und ich philosophieren noch ein paar Stunden auf Gabriels Hotelzimmer weiter. Um 03:00 Uhr gehe ich schlafen. Letzte, kurze Nacht. Am Morgen des siebten, noch verbleibenden halben Tages hier in Japan, diesem wundersamen, exotischen Land, welches für mich voller Überraschungen und Eigentümlichkeiten war, haben wir es endlich geschafft, uns, auf die Minute genau zum angesetzten Termin, im Hotelfoyer einzufinden. Sogar Manuel ist in time. Nambu und Colin holen uns ab und bringen uns zum Narita Airport. Die Sonne strahlt wieder, es ist windig und frühlingshaft mild. Wehmut überkommt mich. Gruppenfoto’s am Airport. Ein letztes "Sajonara" und ein paar "Arigato goseimash’ta" an Nambu und Colin, dann sitzen wir auch schon in der Boing 747, JAL 407. Kalle-San hat uns oben im ersten Stock des Jumbos untergebracht, in diesem Buckel den die Maschine auf ihrem vorderen Teil hat, direkt hinter dem Cockpit. Bye, bye Tokio. Bye bye Japan, es war total geil hier. Es hätte noch eine ganze Weile so weiter gehen können. Man will uns auf jedenfalls hier wiedersehen, haben wir immer wieder gehört. Die Maschine hebt um 14:00 Uhr ab. Pünktlich, selbstredend. Wir trinken einen "Skytime", das ist ein transparent-gelbes, fluoreszierendes Limo-Getränk mit einem sehr merkwürdigen Geschmack. Nicht schlecht, auch optisch betrachtet. Lüül nennt mich HARALD KIRI. Wir alle lachen herzlichst über diesen Joke. Text: Harald Grosskopf, 1997
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