Es ist 03:30 Uhr nachts. Der Jetlag läßt mir keine Ruhe. Nach gerade einmal vier traumreichen Stunden liege ich total wach im Bett. Das nach einundzwanzig Reisestunden, während derer ich die meiste Zeit das Gefühl hatte, als bliebe die Zeit stehen. Die elf Flugstunden von Tokio nach Frankfurt waren von dem rot-orangenem Streifen eines endlosen Sonnenunterganges am Horizont begleitet. Nordroute, sieben Flugstunden allein über dem verschneiten Sibirien. Endlose Weiten, zugefrorene Seen und Flüsse, die sich mäanderartig durch unbewohnte Landschaft schlängeln. Tief beeindruckend, wie diese ganze Reise überhaupt! Ein starkes Bedürfnis, meine Erlebnisse in der vergangenen Woche jemandem mitzuteilen, drängt mich zu dieser frühen Stunde an meinen Rechner, um alles so gut es geht festzuhalten, bevor die Erinnerung verblaßt. Freunde kann ich um diese Uhrzeit leider noch nicht anrufen um meinen Mitteilungsdrang zu befriedigen. Die Geschichte beginnt vor genau zwei Monaten, am 11. Dezember 1996. Ich habe ein Flugticket für eine sechswöchige Indienreise in der Tasche, als mein Telefon spät abends schellt. Manuel (Göttsching), Freund, Gitarrist, head of ASHRA, ist an der Strippe und meldet sich mit: "Ich bin im Wachsmuseum von Tokyo!" - "Was, du bist nicht in Berlin?" frage ich überrascht. "Doch, aber ich bin auch im Wachsmuseum von Tokio", erwidert er, mit meiner Ahnungslosigkeit und Verblüffung spielend. Jetzt dämmert es mir. An zwei Orten zugleich kann er nicht sein. Mir schwant, der Bursche redet von seinem wächsernen Konterfei im Tokioter Wachsmuseum. Nicht in irgend einem Wachsmuseum, in dem Tokioter Wachsmuseum überhaupt. Mr. Gen Fujita, Besitzer des Tokyo Tower, einem der Wahrzeichen Tokios, orange-weißer Stahlturm, der mit 333 Metern Höhe den Eifelturm in Paris noch um 13 Meter überragt, ist seit Jahren ASHRA-Fan. Er hat den guten Manuel in seinem, sich in diesem Tower befindlichen Wachsmuseum, in voller Größe, die rote Gibson SG-Special vorm Bauch hängend, als Wachsfigur, zwischen Queen Elisabeth, den Beatles, Frank Zappa, über Folterszenen des Mittelalters bis hin zum "Last Supper" von Jesus und seinen Jüngern verewigt. "Hast Du Lust in Japan aufzutreten?" ist der nächste Satz den ich höre. "Whow! Japan?! Mit ASHRA!? "Klar Mann!", antworte ich ohne Zögern, "Wann geht’s los? Hoffentlich nicht innerhalb der nächsten sechs Wochen, ich fliege in zwei Tagen nach Bombay!" Er erwidert: "Anfang Februar für eine Woche. Vier Gigs. Zwei Festival- und zwei Clubgigs, Tokio und Osaka". "Paßt genau!", antworte ich begeistert. Meine Bedenken: Wir können nicht, wie früher, alles mit dem alten Arp Sequencer und dem stimminstabilen Minimoog machen. Damals hat Manuel auf der Bühne nach jedem Stück eine neue Bass-Sequenz tunen müssen, was manchmal blödsinnige Pausen bis zu fünf Minuten zwischen den Titeln verursachte. Außerdem war er damals schon mit der Aufgabe überlastet, Gitarre, Sequencer und Keyboards gleichzeitig zu spielen. Ich befürchte auch, daß der Gute, mit der Organisation der Japangigs dermaßen viel um die Ohren haben wird, daß er die Vorbereitung an den Musikmaschinen in der kurzen Zeit kaum würde schaffen können. Frühere Gigs, bei denen wir mit Backing tapes arbeiteten, fand ich nicht gerade überragend, weil ich Tapes für ziemlich unflexibel halte, jedes Stück anders klingen kann, manchmal die tiefen Bassfrequenzen aus dem Ruder laufen und dazu beitragen das die Sets dann nicht wie aus einem Guß rüberkommen. Ich schlage Manuel vor, Steve Baltes mitzunehmen, meinen jungen Musikpartner, Keyboarder, DJ und Produzenten. Mit Steve produziere ich N-TRIBE und HOLO SYNDROME, zwei Elektronikprojekte im Stile von Progressive House, Tribal und Trance/Ambient. Steve ist sehr musikalisch, hat große Talente und die Technik voll im Griff. Seit ich vor drei Jahren Oliver Lieb bei EYE Q in Frankfurt beim Remixen und produzieren über die Schulter geschaut habe, empfinde ich großen Respekt für die musikalisch technischen Fähigkeiten der jungen Szene. Beim 94’iger Jazzfestival in Montreux habe ich für Olivers AMBUSH Projekt, mit noch drei weiteren Drummer das Ddrum gehauen. Als ich zwei Tage nach Manuels Anruf nach Indien abreise, ist ungewiß ob Steve mitreisen wird. Lutz (Ulbrich), den wir alle Lüül nennen, Gitarrist und Keyboarder ASHRA’s muß gefragt, Kostenfragen müssen geklärt werden. Eine Woche später, in Goa angekommen, faxe ich aus einer heruntergekommenen Bruchbude, zwischen den Palmen des Dorfes Benaulim gelegen, mein erstes Fax in dieser Angelegenheit nach Berlin. Am Sylvesterabend kommt die Antwort. Steve fährt mit! Ich freue mich. Wir brauchen ein Certificate of Elegibility (Arbeitserlaubnis). Meine Zunge will dieses Wort zunächst nicht korrekt aussprechen. Ich muß umgehend eine Kopie meines Passes nach Deutschland schicken und Passbilder besorgen. Ich bin fast siebentausend Kilometer von dem frostigen Schneechaos in Deutschland entfernt, von heißer Sommerluft umgeben, vor dem Erfrierungstod gut geschützt. Briefe dauern in der Regel drei Wochen und es kommt vor, daß die Inder die Briefmarken ablösen und die Post wegwerfen. Für fünfzehn Rupies (ca. 0,70 DM) kann man hier zwei vegetarische Tali-Gerichte bekommen. Am ersten Januar, so habe ich es geplant, reise ich von Goa nach Hampi. Ein malerisches Dorf, gelegen in einer Science-fiction Mondlandschaft, garniert mit Tempelruinen. Hampi liegt im indischen Staat Karnataka, dreihundert Kilometer südöstlich von Goa. Zwölf laute, staubige lebensgefährliche Busstunden. Die Inder fahren horrormäßig Auto. Versuch’ mal in Indien eine einfache Fotokopie zu beikommen! Auf der holperigen, unendlichen Fahrt durch berauschend schöne Gegenden, entdecke ich - gerade als wir mit dem abgefuckten, mit Menschen überladenen rotgelben Bus in den von wartenden Menschenmassen überfluteten Busbahnhof einbiegen, einen kleinen Shop mit der Aufschrift XEROX COPY. Meine Chance! Ich springe aus dem Bus, renne, von hunderten Augenpaaren verfolgt, über Müll und Kuhscheiße springend, zurück zu dem Xerox Shop, vorbei an Ochsenkarren, Mopeds und Obstständen, lege meinen Reisepass unter die Klappe, warte auf die Kopie, zahle eine Rupie und renne zurück. Wim, mein belgischer Reisebegleiter, hat meinen Platz freigehalten, auf mein Gepäck geachtet und war bereit, den Fahrer notfalls mit Gewalt dazu zu zwingen, nicht ohne mich loszufahren. Kommt nämlich öfter vor. In Hampi gibt es kein Fax. Erst wieder im Central Telegraph Building von Mysore, einem Gebäude im englischen Kolonialstil, unter den hier Allerorts üblichen, extrem nervenden, umständlich bürokratischen Methoden der indischen Verwaltung. In der malerischen Stadt Mysore werde ich mich etwa vier Tage aufhalten. Die Faxerei funktioniert tadellos. Passbilder von mir treibt Manuel in Deutschland auf. Als ich am 25. Januar wieder im Lande bin, ist Steve schon voll mit den musikalisch-technischen Vorbereitungen beschäftigt. Sampeln, Hardwaresequencer programmieren etc. Er freut sich riesig, daß wir ihn mit nach Japan nehmen. Wir wollen so wenig wie möglich mitschleppen. Dennoch bringen allein wir beide fast einhundert Kilo Gepäck auf die Waage des JAL Check-In Counters am Frankfurter Rheinmain Airport. In den zehn Tagen bis zum Abflug bekomme ich die Timetabels, die bis ins Detail festlegen, wann was mit wem passiert, von Manuel zugefaxt. Die Flugtickets kommen drei Tage vor Abflug. Ich kann die Visa von Steve und mir erst einen Tag vor Abflug vom Japanischen Konsulat in Düsseldorf abholen. Es bleibt spannend bis zur Abreise. Von Mönchengladbach über Köln nach Frankfurt geht’s mit der Bundesbahn. 95 Kg rein in den Zug, in Köln wieder raus aus dem Zug. Auf den Trolly, runter vom Trolly. Treppen runter - schleppen, Treppen rauf - schleppen. Rein in den Zug, in Frankfurt wieder raus aus dem Zug. Auf den Airporttrolly. Runter vom Airporttrolly. Rein in die Schwebebahn. Trolly, Fahrstuhl. Raus aus dem Fahrstuhl. Mit dem Trolly die Rolltreppe rauf. Shit..! Falsche Etage! Wieder die Rolltreppe runter. Da, endlich, am Horizont des riesigen Glasgebäudes, der Japan Airline Counter. Von Weitem erkenne ich Manuel, Lüül und Sydow, unseren Tontechniker. Die drei sind mit der Bahn aus Berlin angereist und auch gerade erst eingetroffen. Wir freuen uns mächtig, uns wiederzusehen und sind gespannt, welches Abenteuer da auf uns zukommen wird. Ich lerne den braungebrannten Kalle Becker, unseren deutschen Tourmanager kennen. Er ist gestern erst aus Bali zurückgekommen, wo er in den letzten Wochen ein Musikprojekt gemanaged hat, mit einem Gammelan-Orchester und dem guten Manni Neumaier (Guru Guru), der in Japan ein Star ist. Kalle nimmt sich sofort mit Entschlossenheit unser Gepäck vor. Endlich sind wir das Zeugs los und können uns bis zum Abflug in zwei Stunden einem gepflegten Bierchen widmen. Wir haben uns lange nicht gesehen, haben uns daher viel zu erzählen. Miteinander quatschen hat Tradition bei ASHRA. Wir haben immer sehr gerne stundenlang miteinander geredet. Ich hatte Anfang der achtziger Jahren die nicht ernstzunehmende Idee, Gesprächs- anstatt Musikaufnahmen von ASHRA zu machen und zu veröffentlichen. Japan Airline (JAL) hat einen außergewöhnlich guten Service. Ich finde kaum Schlaf während der elf Stunden mit JAL 408, aber die Zeit geht mit U-Filmen und guter Verpflegung relativ schnell rum. Gegen 03:00 MEZ geht die Sonne wieder auf. Wir landen auf dem Tokyoter Airport Narita gegen 08:15 Uhr MEZ. Hier ist schon 16:15 Uhr nachmittags. Der Tag ist schon vorbei, ehe er begonnen hat. Es ist Donnerstag, der 06.02.97. Alles blitzt vor Sauberkeit. Darin sind die Japaner mit großem Abstand absolute Weltmeister. Als wir durch die Controllchecks sind, werden wir von Colin, einem jungen Engländer, begrüßt. Er arbeitet für SMASH-West. SMASH ist die größte Konzertorganisation in Japan und arbeitet weltweit. Colin spricht fließend Japanisch. Ich bin beeindruckt. Wir laden unser mächtiges Gepäck wieder auf einige Trollys und schieben uns zu den beiden im Parkhaus wartenden Kleinbussen. Ich entdecke japanische Automodelle, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe. Alles blinkt, glänzt frischgewaschen und hochglanzpoliert. Warum fällt mir ausgerechnet diese Tatsache so auf? Bin ich typisch deutsch? Die japanischen Schriftzeichen, die mir nicht das Geringste sagen und bedeuten, machen alles sehr surrealistisch und irgendwie auch archaisch. Linksverkehr. Speedlimit wie in Holland. Alles kommt mir vor, als würde es in Zeitlupe ablaufen. Geschäftigkeit, aber keine Hektik. Keiner pusht den anderen hier wie bei uns in Deutschland. Es ist auch hier Winter. Schneefreie Landschaft. Grau und blaugrün. Die Skyline von Tokio in der Abenddämmerung ist ein Hammer. Wolkenkratzer mit diesen riesigen, leuchtenden asiatischen Hieroglyphen. Eigenartige, gigantische Architektur. Sechzehn Millionen wohnen und arbeiten hier wie die Bienen. Keine einzige Kippe liegt auf der Straße. Dreistöckige Autobahnen in dreißig Metern Höhe ziehen durch das Häusermeer. Nach fast zwei Stunden erreichen wir den Stadtteil Roppongi. Hier steppt der Bär. Vergnügungs- und Szenemeile. In Roppongi befinden sich die Bars und die angesagten Techno-läden. Mittendrin unser Hotel. Die Seitenstraßen sind klein und eng. Überall leuchtet es grellbunt, blinkt und blitzt mich an. Die Menschen sind freundlich und gut gekleidet. Ich sehe sehr schöne, exotische Frauen. Im Foyer werden wir vom Sektions Chef des Tower Wax Museum, Mr. Takashi Fukushi und seinem Assistenten Mr. Keiji Oikawa, selbstredend in Anzüge gekleidet, empfangen. Der übliche Austausch von Visitenkarten. Mr. Takashi möchte von uns mit Taka-san angesprochen werden. Die beiden überreichen uns ein Geschenk in Form eines kleinen Paketes mit japanischen Ansichtskarten. Die Freundlichkeit der beiden Herren wird von fast unterwürfig schnellen Verbeugungen begleitet, die mir hier noch oft begegnen werden. Ein für mich ungewohntes Verhalten. Mein Zimmer ist relativ klein, läßt aber nichts vermissen. Ich schalte das TV ein und ziehe mir ein paar CNN-Nachrichten rein. Ein Display am Gerät signalisiert mir daß eine Message für mich vorliegt. Auf dem Tisch liegt ein kleines Couvert. Darin eine Visitenkarte von Mr. Gen Fu-jita, Präsident der International Leisure Corporation, die unter anderem das Tokyo Tower Wax Museum verwaltet. Das Wax Museum hat die Sicherheitsgarantien für unsere Tour hier übernommen. Jetzt entdecke ich auf dem Tisch eine Welcome -Flasche des erlesenen französischen "Veuve Cliquot Ponsardin" Champagners. Teures Getränk, geiler Empfang denke ich mir. Das Bad ist eine ultracleane, hellbeige Kuststoffzelle, die im Prinzip nur aus zwei Teilen besteht. Alles was ein Bad braucht aus einem Guß. Die Sitzbadewanne ist tief genug um mich vollständig mit Wasser zu bedecken. Ich bin immerhin 1,90 m groß. Das Bad wird täglich neu bestückt mit: Einer Zahnbürste, Zahnpasta, Handrasierer, Shampoo, Haarspülmittel, Seife, Wattestäbchen, Cremes und Eau de Toilettes. Jeden Tag ein frisch gebügelter, dünner japanischer Morgenmantel und frische Bettwäsche. Gläser werden in Plastiktüten verpackt. Der Toilettendeckel wird mit einer Papierbanderole welche die Aufschrift "sanitarised" trägt, versehen. Welch eine Verschwendung, denke ich. Diesen Eindruck habe ich öfter in dieser Woche. Was geschieht mit dem ganzen Plastikzeugs? Alles ist doppelt und dreifach in Plastik verpackt, eingewickelt, dekoriert. Das Leitungswasser schmeckt stark nach Chlor. Wenn ich dusche oder bade habe ich jedesmal so ein Schwimmbadfeeling. Unser Timeschedule ist stramm und bestens durchorganisiert. Im Foyer des Hotels treffen wir die gesamte SYSTEM 7 Crew. SYSTEM 7 ist der Act von Steve Hillage, mit denen wir am folgenden Abend im "LIQUID ROOM" Club auftreten werden. Um neunzehn Uhr ist ein technical Meeting angesetzt. Mit ASHRA, SYSTEM 7, Colin und Nambu Hirukasu, dem Chef von Smash-West/Tokyo, mit Sa-Sha von der Roadcrew, sowie mit John, David und Jonathan, der SYSTEM 7-Crew. Steve Hillage hat früher mit seiner Lebenspartnerin Miquette Giraudy, einer quirligen Französin, welche die Keyboards bei SYSTEM 7 bedient, bei GONG, dem englisch-französischen Kultact der Siebziger Jahre gespielt und nach Solokarriere, unter anderem, bei THE ORB mitgewirkt. Steve und Miquette sind anwesend, als wir im "Café Paris" einlaufen, in dem das Meeting stattfinden soll. Steve und Miquette kennen Manuel aus der gemeinsamen Zeit bei Virgin Records. Steve hat Manuel einige Male in Berlin besucht, und Manuel hat die beiden in London besucht. Long time no see. Die Atmosphäre ist heiter, gelassen und auf die vor uns liegende Arbeit konzentriert. Ständig piepsen Handys, die in Japan noch kleiner und gebräuchlicher sind als bei uns. Wir alle freuen uns, in Japan zu sein und hier arbeiten zu können. Perfekteste Organisation. Technische Kleinigkeiten werden geklärt, alles wird schriftlich festgehalten, ausgedruckt. Am nächsten Tag drückt Kalle Becker dann jedem von uns ein Exemplar der Resultate des Vorabends, ein mehreren Seiten umfassendes Dokument in die Hände. Nach dem Meeting treffen wir uns alle zu einem gemeinsamen Essen in einem typischen japanischen Restaurant. Die Bedienung gibt unsere Bestellungen in einen handlich kleinen Spezial Restaurantcomputer ein, der hier scheinbar in allen Restaurants zum Inventar gehört. Colin bestellt drauflos. Nach verblüffend kurzer Zeit sind die beiden Tische zum Bersten voll mit dekorativ angeordneten Köstlichkeiten. Ich liebe diese Küche, die nicht nur dem Gaumen schmeichelt, sondern auch den Augen. Steve (Baltes) kommt mit den rohen Fischstückchen des Sushi nicht klar, aber es gibt auch für ihn ausreichend leckere Sachen. Gegen 23:30 Uhr bin ich platt, immerhin ist es nach meinem Bodyfeeling schon 07:30 Uhr, Freitagmorgen. Meinen Weg zum Hotel, welches nicht weit vom Restaurant entfernt liegt, säumen jede Menge Prostituierte. Sie stehen in kleinen Gruppen herum, quatschen mich und jeden, der an ihnen vorbeikommt freundlich an, oder verteilen irgendwelche Flyers. Jede dieser kleinen Dreier bis Fünfergrüppchen ist gleich angezogen. Jede der verschiedenen Gruppen aber individuell. Modisch, es wirkt auf mich als trügen diese charmanten Huren alle Uniformen. Strange! In dieser sauberen, leuchtenden und blinkenden Plastikumgebung wirken sie anders als bei uns. Um diese späte Uhrzeit geht es in Roppongi erst richtig los. Die Straße ist gerammelt voll mit lachenden, scherzenden Menschen. Autos stauen sich, bunte Taxis vor allem. Auf der U-Bahn-Baustelle wird noch gearbeitet. Die Baustellen wirken auch merkwürdig sauber und aufgeräumt. Ein Blau-Uniformierter, mit Helm und einem blinkenden Stock in der Hand, sorgt dafür, daß niemand durch die Bauarbeiten gefährdet oder behindert wird. Ich bin total alle, lege mich auf Ohr und schlafe bis 09:30 Uhr am nächsten Morgen. Wir haben uns für zehn Uhr zum Frühstück verabredet. Kalle Becker kennt sich in Roppongi aus und bringt uns zu einer italienischen Cafeteria mit dem Namen "Pronto", auch nur ein paar hundert Meter vom Hotel entfernt gelegen. Wieder dieser hyperfreundliche Service. Sandwiches in Plastikfolie, Kaffee. Wir sind mitten in Tokio, ich kann es immer noch nicht fassen. Mein Rücken schmerzt von der langen Sitzerei im Flugzeug, und ich entschließe mich den seriösen Shiatsu-Massageservice in Anspruch zu nehmen, den jedes Hotel in Japan anbietet. Um 13:00 Uhr klopft es an mein Zimmer. Pünktlich, wie verabredet. Eine kleine, resolute alte Dame betritt mein Zimmer und redet auf japanisch auf mich ein, scheinbar ohne Antworten von mir zu erwarten. Wie auch. Ich soll den Morgenmantel anziehen, signalisiert sie. Auf nackter Haut wird hier nicht massiert. Wir sind in Japan. Hier geht es anständig zu. "Japanstyle" sagt sie in gebrochenem Englisch. Die Dame ist sehr forsch und bearbeitet mich eine ganze Stunde lang äußerst effektiv mit ihren starken, geschickten Daumen. Manchmal sehr schmerzhaft. Ich fühle mich wie neugeboren, berappe 5000 ¥, etwa 70,- DM. Ach ja, bei allem Erstaunen und Erleben fällt mir ein, daß ich ja vor allem hier bin, um zu arbeiten. Um 15:00 werden wir von Colin zum Stage Set-Up abgeholt. Der "LIQUID ROOM" ist der Techno-Underground-Club in Tokyo. Hier hat schon alles aufgelegt, was in der Welt der Raves einen Namen hat. Im mit interessantesten Graffiti übersäten Dressing Room finden wir ein Catering erster Güte vor. Obst, Sandwiches, Getränke ohne Ende. "Real Dinner will be served later!" hören wir. Das Line-Up dieses Abends: KEN ISHI, japanischer DJ legt auf. SYSTEM 7 und ASHRA spielen live. HANADENSHA, eine junge japanische psychedelic-Rockband tritt auf. Von METALIC T.O. bekomme ich weder während ihres Soundcheck, noch von ihrer Performance etwas mit. Unser Gig soll von 23:30 Uhr bis 00:30 Uhr gehen. Wir haben noch viel Zeit. Manuel will zurück ins Hotel, relaxen. Zuerst wollen wir aber etwas essen. Nach zehn Minuten kommen zwei riesige Plastikplatten mit Sushi und für jeden eine große Suppenschale, angefüllt mit einer schmackhaften Nudelsuppe. Wieder alles gnadenlos in Transparentfolien verpackt und wundervoll dekoriert. Wir fangen schon mal zu essen an. Nach ein paar Minuten kommt Lüül in den Raum gestürzt und schreit, daß etwas mit Manuel passiert ist. Ich renne aus dem Raum und sehe am Ende des Ganges, wie sich Colin und Lüül über den am Boden liegenden Manuel gebeugt haben. Als ich näher komme, erkenne ich, daß er sich im Gesicht verletzt hat. Die Nase ist verletzt, über dem Auge ist eine Platzwunde, sein Gesicht voller Blut. Er hat die Augen offen und reagiert nicht auf meine Ansprache. Wir tragen ihn in den Fahrstuhl, die Ambulanz wartet schon, ein Hospital ist direkt um die Ecke. Lüül und Colin begleiten Manuel. Schock - wir rätseln, was passiert sein könnte. Wird er wieder O.K. sein? Werden wir heute abend überhaupt spielen können? Ich befürchte das Schlimmste, sehe uns, bevor alles angefangen hat, schon wieder abreisen. Kalle Becker, Sydow, Steve und ich beschließen, Manuel entscheiden zu lassen ob er auf die Bühne geht oder ob wir das Set vielleicht ohne ihn, zu dritt durchziehen oder möglicherweise gar nicht erst spielen. Fängt ja gut an, denke ich mir. Nach zwei Stunden Ungewißheit kommt Lüül mit Manuel und Colin zurück. Manuel hat zwei weiße Pflaster im Gesicht und geniert sich für diese Entstellung. Die Nase ist nicht gebrochen. Er ist noch etwas dizzy, aber es geht ihm wieder gut. Der ganze Stress der Wochen zuvor, schlafloser Hinflug, auch die letzte Nacht hatte er nur zwei Stunden gepennt, haben ihn einfach ausgeknocked. Beim Umfallen ist er mit dem Gesicht auf eine Werkzeugkiste geschlagen. Wäre das nicht passiert, wäre er nach zehn Minuten wieder auf den Beinen gewesen. Steve (Hillage) und Miquette sind sehr mitfühlend und echt besorgt. Miquette erzählt, daß ihr das auch schon einmal, aber erst nach einer Japan-Tour, back in England, passiert sei, sie sich aber damals die Nase gebrochen hat und zwei Stunden im Koma gelegen hat. Die ganze SYSTEM 7 Crew ist um Manuel besorgt. Gabriel, unser französischer Manager rennt jedesmal, wenn Manuel den Raum verläßt, dezent hinter ihm her und gibt auf ihn acht. Jonathan, der das Lighting für UNDERWORLD macht, bietet an, sich um unser Licht zu kümmern. David, der schon für GONG gearbeitet hat, und John wollen sich um unseren Monitormix kümmern. Die Burschen sind Klasse, ausgesprochen freundlich und sehr sehr hilfsbereit. Japan mit seinen Höflichkeitritualen hat uns alle bereits infiziert. Manuel will spielen. Als Nambu die japanische Ansage macht und dem Publikum mitteilt, was backstage mit Manuel passiert ist, bricht ein Beifallssturm los. Das lieben die Japaner. Einsatz bis zum Umfallen. Wir sind auf den Flyern und in der Presse unter unserem alten Namen ASH RA TEMPEL angekündigt. Posterwerbung, wie in Europa kennt man in Japan nicht. 24:00 Uhr, Steve (Baltes) geht als erster auf den Set und wird stürmisch begrüßt. Er fängt mit Teppich-Sounds und leisen Gitarrensequence-Samples an. Nach fünf Minuten geht Lüül los und wird ebenfalls stürmisch begrüßt. Dann gehe ich und bearbeite soft meine Hi-Hats. Der Begrüßungsbeifall geht mir wie Strom durch den Körper. Nach mir geht Manuel, der sich mit seinen weißen Pflastern im Gesicht immer noch etwas geniert. Die 1250 Leute, die den "LIQUID ROOM" prall gefüllt haben, reagieren frenetisch. Der Strom treibt uns zur Bestleistung an. Als die Roland 808 mit der 4/4 Bassdrum-Line loslegt, ist die Stimmung auf dem Höhepunkt. Ich bin froh, daß doch noch alles so gut läuft und sehe dem befreiten Lächeln von Lüül und Steve an, daß es ihnen wie mir geht. Kon banwa Tokyo...! Die Show läuft sehr gut weiter, und wir müssen am Ende Zugaben geben. Zurück im Dressingroom bekomme ich von Miquette einen Bussi, die Anwesenden lächeln uns anerkennend zu oder zeigen mit ihren Daumen nach oben. Steve (Hillage) meint , wir sollten unbedingt nach England kommen und spielen, unser Sound sei absolut aktuell und würde sehr gut in die Club- und Raveszene Englands passen. Fumie, eine kleine Japanerin, hat SYSTEM 7 und ASHRA eine Science-Fiction-Torte gebacken. Bunt und grell. Sie liebt die Musik von SYSTEM 7 und ASHRA und ist total happy, daß uns ihre Kuchenkunst gefällt. Jeder bekommt ein Stück. Bevor der Kuchen angeschnitten wird, klicken unsere Autofocuskameras Errinnerungsschnappschüsse. Auch die Stage-Crew ist angetan von unserer Show. Whow....!! Wir sind mitten in Japan. Um 02:00 Uhr liege ich im Bett. Ausschlafen! Geht aber nicht. Um 10:30 haben wir uns zum Frühstück, wieder im "Pronto", verabredet. Die Hotels in Japan bieten nicht automatisch und inklusive Frühstück an. Sydow und Steve haben sich nach der Show noch bis in die Morgenstunden in Roppongi rumgetrieben. Manuel ist seit acht Uhr auf den Beinen, hat Sightseeing in der Umgebung gemacht und schon gefrühstückt. Ich bin halbwegs ausgepennt. Um 11:30 Uhr kommt Colin mit dem Bus und fährt uns zum Tokio Tower. Mr. Fujita hat eine Pressekonferenz einberufen. Als unser Bus auf das Gelände einbiegt, winken uns schon von weitem Bedienstete den Weg. Taka-san und Keiji empfangen uns mit ausgewählter Höflichkeit im Groundfloor und begleiten uns zu den Fahrstühlen. Welch ein Aufriß! In Zweihundertfünfzig Metern Höhe hält der Fahrstuhl. Als die Tür aufgeht, traue ich meinen Augen nicht. WILLKOMMEN, ASH RA TEMPEL IM TOKYO TOWER WAX MUSEUM, prangt es vor unseren Augen. Deutsch, in großen Lettern. Dann sehe ich eine Boutique die den Namen "THE COSMIC JOKERS" trägt, das ist der Titel einer Platte, die wir vor mehr als fünfundzwanzig Jahren gemacht haben. In der Boutique steht ein großes Display mit sämtlichen CD’s von uns. Aus unserer frühen Ära und auch aus späteren Schaffensperioden. Wir sind baff. Neben diversem Space-Age-Nippes entdecke ich ein japanisches Musikmagazin in Hochglanzdruck mit dem Titel ARCH ANGEL. Die ersten vierzig Seiten sind ASH RA TEMPEL und Manuel Göttsching gewidmet. Mit vielen Fotos aus den frühen Siebziger, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Man führt uns in einen großen Raum. Eine sich freundlich verbeugende Schönheit nimmt uns die Garderobe ab. Mr. Fujita begrüßt uns. Wir werden an die für uns vorgesehen Plätze, an einem großen, in der Mitte des Raumes stehenden Tisches geführt und werden mit Kaffee und andern Getränken bewirtet. Taka-san, Chef des Towers, hatte bei seinem letzten Deutschlandaufenthalt die Aufgabe, extra für uns, deutsche Snacks, Gebäck und Underberg (?) aufzutreiben. Die Journalisten werden hereingebeten. Vertreter der vier größten Musikjournale Japans sind auch anwesend. SOUND RECORDING, MARQUEE, THE DIG, und ELEKING. Die englischsprachige JAPAN TIMES schreibt am folgenden Tag ein sehr gutes Review über den Gig. Alle anwesenden Journalisten haben unser gestriges Konzert gesehen und sind voll des Lobes. Die Kameras klicken. Colin übersetzt Fragen ins Englische. Streng, die Regeln japanischer Hierarchien beachtend, wird zunächst Mr. ASH RA TEMPEL, Manuel Göttsching-San befragt. Das San, nach den Namen oder dem Vornamen ausgesprochen, hat zwei unterschiedliche Bedeutungen. Ich bin ab jetzt Harald-San, für nahe Freunde. Für den Fremden und Bekannten heiße ich freundlich, respektvoll distanziert, Großkopf-San. So werde ich von Mr. Fujita und seinen Mannen bei all unseren Begegnungen in den nächsten Tage genannt. Nach zwei Stunden werden wir ins Wachsmuseum geführt. Fotos von uns, neben den beiden Helden des "Planet der Affen". Da steht er, unser Manuel-San, ganz aus Wachs. Outfit wie Anfang der Siebziger Jahre. Neben ihm in der Kabine, Klaus Schulze-San, der eher aussieht wie Bernd Kistenmacher-San. Gegenüber, der finster vor sich hinblickende GURU GURU, Mani Neumaier-San. Alle sind vorhanden: Von Ritchie Blackmore, Jimmy Page, Peter Gabriel, über Jimi Hendrix, Elvis, Mahatma Ghandi, Marilyn Monroe, bis Einstein und Jesus. Alles hemmungslos dicht beieinander. Taka-san und ein weiterer Japaner begleiten uns auf die Aussichtsplattformen der obersten Stockwerke des Towers. Welch ein Ausblick! Tokio bis zum Horizont, in alle Richtungen. Es dämmert bereits, die Neonbeleuchtungen mit den japanischen Riesenlettern und blitzlichtähnlichen Blinkereien sind schon eingeschaltet. Auf der Ebene der "Cosmic Joker" Boutique ist eine von diesen japanischen Spielhöllen. Computer steuern in Echtzeit die Mechanik der Spiele. Du sitzt vor einem Riesenbildschirm und steuerst irgendeine Flugmaschine oder bekämpfst gnadenlos sehr sportlich weghüpfende Terroristen. Der große Rentner sind Fotoautomaten, an denen man sein Konterfei auf diverse frei wählbare Rahmen und Backgrounds setzen lassen kann und dann als sechzehnfachen Ausdruck in Briefmarkengröße, zum Heraustrennen und Aufkleben, ausgedruckt bekommt. Die Leute stehen Schlange vor diesen Apparaten. Ich bekomme ein Exemplar geschenkt. Kalle-San, unser Tourmanager und ich entschließen uns, zurück zum Hotel zu Fuß zu gehen. Zwanzig Minuten Weg. Die Luft in Tokio ist klar und frisch, wegen der Meeresnähe. Zwei Tage später erhält jeder von uns Vieren als Erinnerungsgeschenk von Mr. Fujita ein Paket mit einem individuellen Fotoalbum: ASHRA im Tokyo Tower. Im Hotel nehme ich schnell ein heißes Bad, habe gerade noch Zeit mich umzuziehen und begebe mich ins Foyer. Um 20:00 Uhr ist Termin. Wir werden wieder von Colin abgeholt. Mr. Fujita hat uns und die SMASH-Crew zum Essen eingeladen. Pünktlichkeit ist ein Muß in Japan, sonst beleidigt man den Gastgeber, der das aber nie direkt zum Ausdruck bringen würde. Wir schaffen es nicht ganz. Sorry Mr. Fujita! Ein Restaurant der Oberklasse, mit viel Pflanzen, japanischem Interieur und Aquarien, die wie Teiche in den Boden eingelassen sind, empfängt uns. Wir werden in ein großes, aber schmales Separee geleitet. Mr. Fujita begrüßt uns. Die Tischordnung ist festgelegt. Wir sitzen Mr. Fujita gegenüber. Die Manager neben uns. Die Crew sitzt am anderen Ende des langen Tisches. Sake wird gebracht. "Kampai, Kampai" prosten wir uns zu. Feinste Köstlichkeiten, deren Großteil ich noch nie zuvor gesehen und geschmeckt habe, werden in kleinen Portionen serviert. I love Japan! Sake, und noch einen Sake. Das Essen schmeckt ausgezeichnet. Als Nachtisch, Eis aus grünem Tee. Mr. Fujita ist seit Jahren ein begeisterter Anhänger unserer Musik und sorgt, unter anderem mit seinem Museum, für deren effektive Verbreitung in Japan. Er ist buisinessmäßig oft in Deutschland. Um 23:00 Uhr wird die Tafel aufgehoben. Mr. Fujita begleitet uns persönlich zum Hotel. Verabschiedung. Ein herzliches "Arigato goseimash’ta" unsererseits im Hoteleingang. Ich bin vom Sake etwas angedödelt, aber noch fit. Wir beschließen, in einen Club zu gehen. Der heißt GAS PANIC und liegt auch nicht weit entfernt vom Hotel. Die Straßen wieder voller Leute, die Geschäfte zum Teil noch offen. Wieder die obligatorische Anmache der Huren. Schwarze Nordamerikaner drücken uns im Vorbeigehen Flyer mit Pornoprogrammen der Sexclubs in die Hände. Fahrstuhl, siebter Stock. Ein muskelbepackter Bodyguard mustert uns skeptisch und läßt uns passieren. Im GAS PANIC geht es ab. Hip-Hop, Grunge, Techno. Laut! Sehr laut! Viele Weiße halten sich im Club auf. Auf der Theke tanzen einige Frauen. Die Stimmung ist super, alles scheint sich zu freuen. Nach zwei Stunden gehe ich mit Steve zurück ins Hotel. Kalle-San, der länger geblieben ist, berichtet uns am nächsten Tag von einer heftigen Schlägerei zwischen Mexikanern und Japanern. Der Muskelmann hat auch gut zugelangt. Morgen geht es nach Osaka. 09. Februar. Ich schlafe nur zwei Stunden lang, dann ist es aus. Der Jetlag schlägt zu. Es ist 03:30 Uhr. Ich lege mich in die heiße Badewanne und beschließe, nach dem Bad Postkarten zu schreiben. Die sind schon nach zwei Tagen alle in der Heimat. In Indien haben die Dinger drei bis vier Wochen gebraucht. CNN berichtet vom Tamagutch’ Fieber, das in Japan ausgebrochen ist. Tamagutch’ ist ein buntes, kleines piepsendes Plastikei mit einem LCD-Display und zeigt ein kleines Hühnchen, das auf Knopfdruck irgendwelche Aktionen macht. Wenn man Fehler macht, verreckt es. Das Ding kostet sechzehn Dollar und ist seit Wochen wegen starker Nachfrage nicht mehr zu bekommen. Fanatiker zahlen bis zu einhundert Dollar für ein Exemplar. 11:00 Uhr, Frühstück, diesmal beim "Franzosen" im "CAFE DE PARIS". Auch um die Ecke gelegen. Um 12:00 Uhr checken wir aus und werden mit drei grünen Taxen zum Shin-Tokyo gefahren. Uns erwartet eine Eisenbahnfahrt mit dem SHINKANSEN, einem der schnellsten Reisezüge der Welt. Wieder alles Blitzsauber. Wir schießen Erinnerungsfotos. Immer schön den japanischen Background drauf, könnte ja sein, daß uns später keiner glaubt. Nambu kauft Tickets. Wir, im Gänsemarsch hinterher. Rolltreppen rauf, Rolltreppen runter. Durch die Sperre. An dem Kontrolleur in weißen Handschuhen vorbei. Bahnsteig. Keine einzige Kippe auf den Gleisen. Die Raucherzonen auf dem Bahnsteig sind mit einer grünen Linie am Boden ausgewiesen. Auf dem gegenüberliegenden Gleis wird die Einfahrt eines SHIN-KANSEN erwartet. Pinkbekleidetes Reinigungspersonal wartet artig an den Kennzeichnungen für die Zugtüren, die am Boden des Bahnsteiges angebracht sind. Der weiße stromlinienförmige SHIN-KANSEN läuft ein und hält Millimetergenau an diesen Markierungen. Wir steigen ein. Vollklimatisierte Großraumkabine. Zweierreihe Sitze auf der Rechten, Dreierreihe Sitze auf der Linken Seite. Die Sitze nach hinten kippbar, mit reichlich Beinfreiheit nach vorn. Im Sitz des Vordermannes eine ausklappbare Tischfläche. Auf die Sekunde rollt der Zug an. Die Strecke ist etwa sechshundert Kilometer lang. Die Fahrt dauert knapp drei Stunden. Der Zug rollt sehr leise und weich. Eine ultrafreundliche, weibliche Stimme macht Ansagen auf japanisch und englisch. Es geht vorbei an endlosen Vororten. Die gesamte Strecke von sechshundert Kilometern erscheint mir wie eine einzige Stadt. Ich nicke ein und werde von Gabriel, unserem französischen Manager und Plattenfirmenchef (SPALAX) angestoßen. Der Fujijama ist in voller Größe auf der rechten Seite zu sehen. Scheiße, mein Autofocus an der Kamera läßt sich nicht abstellen, die Scheibe nicht runterkurbeln. Es geht weiter. Nagoya, Kyoto. Dann der Shin-Osaka. Wieder im Gänsemarsch hinter Nambu her. Taxi. Check-In Hotel. Sauber, hell, Klasse. Kobe, die Stadt, die von diesem schrecklichen Erdbeben vor zwei Jahren völlig zerstört wurde, liegt auf der anderen Seite der Bucht, keine zwanzig Kilometer von Osaka entfernt. Steve und ich achten auf Erdstöße. Es sollen bis zu 1000 kleine Beben im Jahr hier stattfinden. Das sind durchschnittlich drei pro Tag. Ich merke nichts davon. Es ist 16:30 Uhr, wir laufen in die Stadtmitte. Fußgängerpassage. Auf zehn Kilometern Länge überdacht. Bunte Science-fiction Welt. Ich denke an die Kö-Passage in Düsseldorf. Steve klinkt sich aus, macht sich auf eigene Faust auf den Weg. Nach und nach verlieren wir uns alle auf der Strecke. Manuel und ich bleiben zusammen und entschließen uns, eine Kleinigkeit zu essen. We love Sushi. Freundliche Bedienung, köstlicher Geschmack. Auf dem Rückweg noch ein Eis. Es gibt hier, neben dem uns schon bekannten Grünem-Tee-Eis auch Kartoffeleis. Richtig gehört, KARTOFFELEIS! Haben wir keinen Bock drauf, bleiben bei Vanille und Walnuß. Übrigens bekommen nicht nur Autos hier Strafzettel. Fahrräder auch, sie werden, wenn sie falsch geparkt sind mitgenommen und erst gegen Entgelt wieder ausgelöst. Ich bin so müde, daß ich das angesagte Abendessen mit Nambu und seiner Frau auslasse und schlafe gute dreizehn Stunden lang. Lüül ist verschwunden, unsere Anrufe auf seinem Zimmer werden nicht entgegengenommen. Er taucht weder zu dem Essen am Abend, noch zum Frühstück am nächsten Morgen auf. Wird schon alles in Ordnung sein, hoffen wir. Strahlender Sonnenschein weckt mich. Der 10. Februar. Es ist mild draußen. Nach dem Frühstück, in einem der zahlreichen Cafés, laufen Steve und ich einige Stunden zu Fuß durch die Stadt. Alles ist quadratisch angeordnet. Wir finden uns leicht zurecht, gehen in eine dieser Spielhöllen, die manchmal Atariata genannt werden und verprassen ein paar hundert Yen an einem Baller- und Karatespiel in Echtzeit. Die Auflösung der Bildqualität ist enorm. Dann besuchen wir einen Musikladen und checken den neuen JP-8000 von Roland. Gibt’s hier schon und ist ‘ne Ecke günstiger als bei uns zu haben. Unterwegs treffen wir Lüül, er hat bis heut morgen durchgeratzt und unser Telefongeklingel nicht mitbekommen. Was soll’s, er ist wieder da, wunderbar. SYSTEM 7 war tagsüber in Kyoto und hat sich die Stadt angesehen. Wir hätten um 07:00 Uhr aufstehen müssen um den Trip mitzumachen. Next time! Zu anstrengend heute. Wir haben noch drei Gigs vor uns. Steve (Hillage) und Miquette sehen wir beim Soundcheck im "BAYSIDE JENNY" Club wieder. Große Wiedersehensfreude. Miquette hatte gestern Geburtstag. Wir schenken ihr gemeinsam eine "Tarot" Swatch Uhr, die Walter Wegmüller entworfen hat, ein Schweizer Maler, mit dem wir vor fünfundzwanzig Jahren ein Doppel-LP, mit dem Titel "TAROT", produziert haben. Soundcheck, die Anlage ist riesig, hat aber lange nicht die Qualität von der im "LIQUID ROOM". SYSTEM 7 hat Probleme mit dem Monitoring. Irgend etwas ist im Eimer und wird gerade von John und David repariert. Wir sitzen blöd rum und warten darauf, unseren Soundcheck machen zu können. Als wir dann endlich dran sind, raucht uns’ Steve’s Monitor ab. Er bekommt einen kleineren, auf dem aber die 808-Bassdrum nicht so fett rüberkommt. Er befürchtet, daß er sie, weil controlingmäßig nicht richtig zu hören, während des Sets zu laut aufreißen könnte. Im Dressingroom backstage, wieder geilstes Catering. Hier in Osaka hat die Liebe zum Underground erst vor kurzer Zeit angefangen, hören wir. Tokyo sei da wesentlich weiter. Die Leute bezahlen für unsere Shows im Schnitt 5500 ¥, das sind mehr als 75,- DM. Normal hier. Wir spielen pünktlich um 00:00 Uhr, für etwa eine Stunde. Der Laden ist gut gefüllt. Wir fahren auch hier musikalisch wieder sehr gut ab, geben an einigen Stellen enorm Gas und müssen Zugaben spielen. Alles hat, trotz Soundbeschränkung on Stage, sehr gut geklappt. Die Show war hochgradig professionell. Tokio und das ganze Drumherum hat uns sehr viel Energie gegeben. Der technical Support von Sa-Sha und seiner Crew ist perfekt und immer relaxed freundlich. Steve (Hillage) und Miquette wollen sich für uns in England stark machen, wir sollen unbedingt dort spielen. Fotosession nach dem Set. Wir werden von einem Amerikaner, der hier lebt und japanisch spricht, für ein englischsprachiges Blatt interviewt. Er fand unsere Show sehr gut und wird positiv schreiben. Ich will mir SYSTEM 7 anhören. In Tokyo war ich zu erschöpft, um bis 03:00 Uhr durchzuhalten. Hier in Osaka spielen Sie auch erst gegen 02:30 Uhr nachts. Ihre Show ist geil und zeitgemäß. Unser Youngster Steve (Baltes) hat echt Spaß an den beiden. Der letzte Tag für SYSTEM 7 in Japan. Die ganze Crew muß morgen, das heißt in vier Stunden, am Airport in Osaka sein. Wir verabschieden uns von ihnen, mit der Hoffnung, uns bald wieder zu treffen. "Maybe London!". Tschüs, war ein gutes Ding, Euch alle kennenzulernen. Dank an David und John für den support am Monitormixer und danke auch für das geile Licht, Jonathan. 11. Februar. Heute ist japanischer Nationalfeiertag. Man merkt nichts davon. Die Läden sind alle offen. Der Konsumrausch geht ungebrochen weiter. Wir fahren in den siebenten Stock eines Hochhauses in dem SONY, in einigen Showrooms, elektronische Neuheiten präsentiert. Wir sind beeindruckt von dem Entwicklungsstand hier. Japan, Science-fiction Land. Das Zeug was hier auf dem Markt ist, kommt erst in den nächsten Jahren zu uns rüber. Die Japaner nutzen die moderne Technik in aller Unschuld und vollkommen ohne Vorbehalte. Nach ihrem buddhistischen Verständnis ist alles, auch Anorganisches, mit Leben beseelt. Somit sind die Dinge an sich nicht schlecht, sofern sie nicht mißbraucht werden. Aber selbst dann sind die Erfahrungen, die aus den schmerzlichen Folgen eines Mißbrauchs herrühren, für das Leben des Einzelnen und der Masse positiv zu werten, weil sie die Evolution vorantreiben. Um 15:00 Uhr holt uns Nambu aus dem Hotel ab. Der "CLUB QUATTRO" liegt nur zehn Minuten vom Hotel entfernt. Wir laufen. Es hat kurz geschneit, und der Wind ist eisig kalt heute Nachmittag. Supersound im Club. Wir sind allein on Stage heute abend. Alles flutscht, wir sind gut drauf. Mr. Fujita hat ein riesiges Blumenbuquet und eine Flasche Napoleon in den Dressingroom schicken lassen. Die TOKYO TIMES, die größte englischsprachige Tageszeitung ist voll des Lobes über die Gigs von ASHRA und SYSTEM 7. am ersten Tag in Tokio. Überschrift: LOST AND FOUND IN SPACE - Examples of old school-into-new school - High on the energy, und so weiter. Taka-san und Keiji haben heute mal ganz lockere Kleidung an und filmen jede unserer Bewegungen auf Video. Die Show beginnt um 19:00 Uhr und geht heute über zwei volle Stunden. Alles läuft wieder bestens. Unser bester Gig bisher. Der Sound ist total geil. Der Japaner am Monitormixer ist ein ausgeschlafener Typ. Zugaben, Autogramme, Interview. Nach dem Essen feiern wir auf meinem Hotelzimmer mit dem "Veuve Cliquot Ponsardin", den ich vorsorglich kaltgestellt habe. Lüül hatte die gleiche Idee, und somit ist die zweite Flasche auch gut gekühlt. Manuel hat in seinem Zimmer eine Riesenschale mit Obst entdeckt, die ihm Mr. Fujita hat schicken lassen. Er schleppt sie an. Wir prosten uns "Kampai" zu, freuen uns über den Erfolg hier und genießen das köstliche Obst. Quatschen. Um 02:00 Uhr schmeiße ich die ganze Bande aus dem Zimmer, denn ich bin nach dreieinhalb Stunden trommeln, Soundcheck mitgerechnet, gut angeplättet, außerdem müssen wir früh raus. Am 11. Februar um 09:30 Uhr holt uns Nambu bei strahlendem Sonnenschein vom Hotel ab. Der SHINKANSEN, zurück nach Tokio wartet auf uns. Taka-san hat mir seine Videokamera geliehen. Ich filme alles, was ich sehe. Taxieinstieg der Band. Taxifahrt. Shin-Osaka, Bahnhof von innen, den ASHRA-Gänsemarsch hinter Nambu her, die Einfahrt des SHIN-KANSEN in den Bahnhof, den Einstieg unserer Truppe, die Fahrt, endlose Städte, verschneite Landschaft, den Fujijama. Die Sonne scheint nach heftigem Regen- und Schneeschauer wieder. Klare Luft empfängt uns am Shin-Tokyo. Das Hotel und der Club liegen im Stadtteil Shibuya. Wir werden wieder allein spielen heute abend. Wir laufen zum Club. Als ich noch mal zurück zum Hotel gehe, verlaufe ich mich fast. Das kann hier orientierungsmäßig ziemlich ins Auge gehen. Englisch spricht kaum jemand, und in den äußeren Bezirken findest man nur noch japanische Schriftzeichen. Nach zahlreichen vorsichtigen Versuchen die Nebengassen nach dem Hotel abzusuchen, finde ich es endlich und komme noch rechtzeitig zurück zum Club, um ein wenig Sound-zu-checken. Ich habe ein Monitorproblem, aber gebe mir während des Gigs alle Mühe, es zu ignorieren. Die Leute toben, Zugaben. Geile Reaktionen hinter der Bühne. Das war’s dann. Die letzten beiden Flaschen "Veuve Cliquot Ponsardin" teilen wir mit der Crew und sagen allen Beteiligten ein großes Danke für alles. Superarbeit! Bis zum nächsten Mal. Kings Records erwartet Gabriel Ibos und uns zu einem Essen nach der Show. Wir müssen für morgen erst alles reisefertig einpacken, bevor wir die Einladung wahrnehmen können. Die Fans lassen uns auf der Straße nicht vorbei, ohne daß wir einen Stapel LP’s und CD’s signiert haben. Das Essen ist wieder einsame Spitze. Toby, der sich Tobynation nennt, ein junger japanischer DJ, der Deutschland, Oliver Lieb und die Leute von EYE Q RECORDS aus Frankfurt kennt, sitzt mit uns am Tisch. "Kampai, Kampai". Dann gehen wir noch in einen Club. Der ist aber nicht so berauschend. In einer Kneipe nebenan gibt’s noch ein paar Bier und nette Konversation über französischen Existenzialismus, No, Kabuki und Butoh-Tanz mit einer auffallend attraktiven Schönheit. Sie spricht ein gutes Englisch, ist eine Poetin, die Gabriel seit Tagen begleitet und mir schon auf dem ersten Tokyo Gig im "LIQUID ROOM" aufgefallen war. Sie heißt Setsuko Chiba und hat auf Gabriels französischem Label eine Platte mit Text und Musik herausgebracht. Im "ON AIR WEST" Club heute abend hat sie uns angesagt. Lüül, Gabriel, Setsuko und ich philosophieren noch ein paar Stunden auf Gabriels Hotelzimmer weiter. Um 03:00 Uhr gehe ich schlafen. Letzte, kurze Nacht. Am Morgen des siebten, noch verbleibenden halben Tages hier in Japan, diesem wundersamen, exotischen Land, welches für mich voller Überraschungen und Eigentümlichkeiten war, haben wir es endlich geschafft, uns, auf die Minute genau zum angesetzten Termin, im Hotelfoyer einzufinden. Sogar Manuel ist in time. Nambu und Colin holen uns ab und bringen uns zum Narita Airport. Die Sonne strahlt wieder, es ist windig und frühlingshaft mild. Wehmut überkommt mich. Gruppenfoto’s am Airport. Ein letztes "Sajonara" und ein paar "Arigato goseimash’ta" an Nambu und Colin, dann sitzen wir auch schon in der Boing 747, JAL 407. Kalle-San hat uns oben im ersten Stock des Jumbos untergebracht, in diesem Buckel den die Maschine auf ihrem vorderen Teil hat, direkt hinter dem Cockpit. Bye, bye Tokio. Bye bye Japan, es war total geil hier. Es hätte noch eine ganze Weile so weiter gehen können. Man will uns auf jedenfalls hier wiedersehen, haben wir immer wieder gehört. Die Maschine hebt um 14:00 Uhr ab. Pünktlich, selbstredend. Wir trinken einen "Skytime", das ist ein transparent-gelbes, fluoreszierendes Limo-Getränk mit einem sehr merkwürdigen Geschmack. Nicht schlecht, auch optisch betrachtet. Lüül nennt mich HARALD KIRI. Wir alle lachen herzlichst über diesen Joke. Text: Harald Grosskopf, 1997
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